Konfessionen ade?

Wie Frömmigkeitstypen an die Stelle konfessioneller Spaltungen treten

Über Jahrhunderte prägte die Spaltung der Konfessionen das Leben vieler Menschen in Europa. Im sogenannten „konfessionellen Zeitalter“ zog sich der Riss durch nahezu alle Lebensbereiche. Heute gibt es zwar noch die Konfessionen und so manche Verschiedenheit hat sich erhalten. Aber dennoch hat die Bedeutung dieser Trennung im allgemeinen Bewusstsein stark nachgelassen. Insbesondere für jüngere Menschen spielen die konfessionellen Unterschiede in vielen Lebenssituationen kaum noch eine Rolle. An ihre Stelle ist eine andere Trennlinie getreten. Diese verläuft nun aber quer zu den Konfessionen. Was heutzutage im Lebensgefühl und bei vielen praktischen Fragen Trennungen verursacht, ist stärker der Frömmigkeitstypus als die angestammte Konfession. Das gegenwärtige Gruppenempfinden richtet sich mehr an den Bezeichnungen „liberal“ oder „konservativ“ aus.

Gefühlte Zugehörigkeiten
Zwar sind beides unscharfe Begriffe, aber doch entwickeln sich an ihnen „gefühlte“ Zugehörigkeiten. In meinem Bekanntenkreis gibt es einige, die z.B. die Zeitschrift Publik-Forum gern lesen, aber nicht ohne weiteres sagen könnten, ob das ein evangelisches oder katholisches Blatt ist. Umgekehrt habe ich im evangelikalen wie im konservativ-katholischen Bereich Menschen getroffen, die sich vollkommen einig waren, dass z.B. die Harry-Potter-Bücher gefährlich seien, weil sie Magie und Okkultismus verbreiten würden.

Eine Frage der Autorität
Beide Frömmigkeitstypen unterscheiden sich maßgeblich in ihrer jeweiligen Haltung zur Autorität und zur menschlichen Vernunft. Im „konservativen“ Lager kämpft man für den Erhalt der traditionellen Autoritäten. Das zeigt sich im evangelischen Bereich oft in einem fundamentalistischen Bibelverständnis. Im katholischen Bereich hingegen geht es mehr um die kirchliche Autorität, also Papst und Lehramt, auf die man sich beruft – allerdings meist in vorkonziliarer Perspektive und weniger auf den gegenwärtigen Papst Franziskus. Gemeinsam ist dieser Richtung in beiden Konfessionen die Furcht, das selbständige Denken des Individuums könne diese Autoritäten beschädigen. Darum müsse der menschliche Verstand ihnen stets untergeordnet bleiben.

Kritisches Denken gefragt
Im Gegensatz dazu wird dem selbständigen kritischen Denken in dem hier als „liberal“ bezeichneten Bereich ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Damit werden auch die gewachsenen religiösen Autoritäten der Kritik unterworfen. Inbegriff dafür ist – nicht nur im protestantischen Bereich – die historisch-kritische Methode der Schriftauslegung. Im katholischen Bereich gehört dazu z.B. die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus – vor allem bei den Themen sexueller Missbrauch und Stellung von Frauen in kirchlichen Ämtern.

Größere Vielfalt
So scharf, wie der Gegensatz hier gezeichnet wurde, ist er glücklicherweise in der Praxis nicht immer. Es gibt viele nicht-fundamentalistische „Konservative“ ebenso wie traditionelle Werte schätzende „Liberale“. Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind also fehl am Platz. Dennoch können diese Beobachtungen etwas von den veränderten Allianzen der Gegenwart erklären.

Dr. Harald Lamprecht
ist Weltanschauungsbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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* Die Evangelische Orientierung ist die vierteljährlich erscheinende Mitgliederzeitschrift des Evangelischen Bundes.